Literaturkritik

   

Johann Warkentin ist von uns gegangen. In der Nacht zum 9. April schlief er friedlich ein. Lili, seine Tochter, die die letzten Tage stets an seinem Bett verweilte, teilte mir mit, dass ihr Vater am Vorabend einen schweren Atem hatte. Gegen Morgen hörte sie plötzlich, dass es ruhig wurde. Sie trat an sein Bett, griff ihn an die auf der Brust zusammengefaltete Hände; er bewegte sich nicht. Sie rief die Krankenschwester, die nur noch das Ableben feststellen konnte... Die Uhr zeigte 20 Minuten vor 4..."

Liebe zur Muttersprache

Johann Warkentin, ein führender russlanddeutscher Schriftsteller, war ei­ner der letzten Mohikaner in der rußlanddeutschen Literatur des Neubeginns in der Nachkriegszeit - ein glänzender Stilist, Nachdichter, Journalist und Literaturkritiker...
Über fünfzig Jahre stand er im Dienst der russlanddeutschen Literatur und hatte eine ganze Rei­he von Büchern veröffentlicht - darunter auch die in Deutschland erschienenen Publikationen „Rußlanddeutsche Ber­lin-Sonette" und seine „Geschichte der russlanddeutschen Literatur aus persönlicher Sicht“, die 1999 von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland“ herausgegeben wurde, war das erste Buch dieser Art in Deutschland. Seine „Nachdichtungen: Höhepunkte der russischen Lyrik“ war eins der ersten Bücher im Burau Verlag (hrsg. 2000), der etwas später sein Buch „Übersetzers Frust und Leid“ folgte sowie seine gesammelte Versen „Spuren im losen Sand“ (2005). Dieses Buch erschien zu seinem 85. Geburtstag. Der Verleger schrieb im Klappentext: „Um den jungen und späten Johann Warkentin unter Dach und Fach zu bringen, bedürfte es Vorspanne, Einschübe und Fußnoten – wie immer polemisch, kritisch und selbstkritisch. Ihr Zweck, sein Werk aus nahezu 50 Jahren zusammenzuhalten – eine Herausforderung und eine Gratwanderung. Aber sie ist hilfreich für das Verständnis der Vergangenheit der verschiedenen Welten: der Sowjetunion, der DDR, des geeinten Deutschland.“
Elf Jahre - bis zur Übersiedlung nach Deutsch­land (Ostberlin, 1981) - war er Literaturredakteur der Moskauer Zeitung „Neues Leben". Sein kul­turpolitisches Engagement ist einmalig, seine Lie­be zur Muttersprache auch.
Er war einer der ersten Rußlanddeutschen, die in der Nachkriegszeit unter den schwierigsten Bedin­gungen sich für die Wiederbelebung des deutschen Wortes in Russland einsetzte.
Auf der Krim geboren, in Leningrad Anglistik vor und nach der Arbeitsarmee studiert, wurde er Sprach­lehrer im Altai. Johann Warkentin war 36, als er hörte, dass in Barnaul die erste deutsche Nachkriegszeitung „Arbeit" mit gnädiger Erlaubnis der Lan­desväter erscheinen durfte.
„Ich war wie verrückt. Ich musste einfach dabei sein. Ich stieg in die Journalistik und in die Litera­tur mit 20 Jahren Verspätung ein, habe in diesem Alter auch alle literarischen Kinderkrankheiten mit­gemacht", erzählt er. "Die Arbeit als literarischer Berater in der neuen Zeitung machte Spaß. Eines glühenden Sommertages landete Ernst Kontschaks erste Reportage aus dem eisklirrenden Norilsk auf dem Tisch, es meldete sich Viktor Klein aus Novosibirsk, Sepp Österreich aus Tomsk, Friedrich Bolger und auch viele frischgebackene Schreiber, und die Flut von Gereimtem wurde fast zur Plage."
Die Redaktion der „Arbeit" „entartete" aber auch zur "Brutstätte" ganz abwegiger Aspirationen (In einer von den vier Redaktionsstuben wurde über Autonomie getuschelt, ein Brief nach Moskau ge­schrieben) und bald wurde die gesamte Redaktion geschlossen und die Stammleser am 1. Mai 1957 an die neugegründete Moskauer Wochenzeitung „Neues Leben" weitergereicht.
Chrusthtschows „Tauwetter", die Rehabilitierung einiger zu Unrecht verbannten Völker, der Glaube an das Gerechtigkeitsprinzip weckte in einer Grup­pe von russlanddeutschen Intellektuellen die Illusi­on, dass die deutsche Autonomie wiederhergestellt werden könnte (Dieser Versuch ist auch vierzig Jah­re später gescheitert).
Johann Warkentin war ab 1956 in der damals streng verpönten Autonomie-Bewegung aktiv. Für ihn war klar: ohne kulturelle und wirtschaftliche Au­tonomie Wird der Erhalt der deutschen Sprache und Kultur immer schwieriger und die Russifizierung immer wahrscheinlicher werden. Er nahm diesen ungleichen Kampf auf, machte ihn zu seinem Le­bensinhalt. Ein Deutscher in Russland, der sich für das Deutschtum offen einsetzte, war verdächtig, wurde nicht nur von den Kollegen schief angese­hen, sondern auch auf Schritt und Tritt bespitzelt.
Seiner großen Liebe - der deutschen Sprache - blieb Johann Warkentin trotzdem treu. Er landete für 8 Jahre in Alma-Ata, machte beim deutschen Rundfunk mit, sang begeistert in einem neu gegründeten deutschen Chor mit, wurde Lehrstuhl­inhaber für Fremdsprachen bei der Akademie der Wissenschaften und Mitglied des Schriftstellerver­bandes der UdSSR. Zu dem Zeitpunkt hatte er den Gedichtband „Lebe nicht für dich allein" mit seinen Gedichten und Nachdichtungen herausgege­ben, später ein literaturkritisches Büchlein „Kriti­sches zur sowjetdeutschen Literatur". Er hat über eintausend Nachdichtungen gemacht, die im „Neu­en Leben" und teils im Gedichtbänd „Gesammel­tes" in Kasachstan erschienen.
Wovon handeln diese Verse? Davon, wie ein Rußlanddeutscher dieses unfertige Land, die Halbhauptstadt, sich selbst und seinesgleichen sieht. Recht eigentlich: Rußlanddeutsche – woher? wohin? (Ein Buch mit diesem Titel erschien 1992 in Moskau und wurde später noch mal im Robert Burau neu verlegt). Von der Anlage her sind die einen Stücke erzählerisch, bis hin zu Momentaufnahmen, die anderen eher meditativ. Die meisten klingen herb, manche auch bitter, doch eindeutig musste aus dieser Tonart das Bekenntnis zu Deutschland, die Liebe zur Muttersprache herauszuhören sein.
Nachdem er sich 1965 der ersten Autonomie-Bittstellerdelegation nach Moskau anschloss, wie­derholten sich die Schikanen am Arbeitsplatz ge­nauso wie früher in Barnaul. Seine Lage war brenzlich. Auf alle Bewerbungen kamen Absagen, bis er endlich nach einer Zwischenlandung in Ufa im Mai 1969 eine Einladung von Redaktion der Zeitung „Neues Leben" bekam. Dies waren seine produk­tivsten Jahre.
Aber auch als Rentner führte er ein Leben ohne Rast und Ruh. In die DDR übergesiedelt, machte er Nachdichtungen für die Zeitschrift „Sowjet­literatur". Als die Berliner Mauer fiel, war Johann Warkentin derjenige, der sich für die Gründung der Landesgruppe Berlin der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland einsetzte und unermüdlich für die Belange der Spätaussiedler in den neuen Bundesländern stritt. Sein umfangreiches Wissen und seine literarischen Erfahrungen gibt er an die jüngere Literatengeneration weiter. Er redigierte die ersten zwei Ausgaben des Almanachs „Wir selbst - Rußlanddeutsche Litera­turblätter", wurde zum Vorsitzenden des Arbeits­kreises Autoren bei der Landsmannschaft der Deut­schen aus Russland gewählt. Von besonders großer Bedeutung sind die Werkstatthefte „Einmaleins des Schreibens", durch die er als Redakteur den Literaturbetrieb unserer kleinen schöpferischen Gruppe mit großem Engagement forderte. Seinem Lebenswerk über die Ge­schichte der rußlanddeutschen Literatur widmete er viel Zeit und gelichzeitig hält Johann Warkentin damals Vorträge in Englisch und Deutsch, nimmt an Lesungen rußlanddeutscher Autoren teil. Im Mai 1998 wurde er vom Literaturkreis nach Bonn eingeladen, um den Kulturtagen der Deutschen aus Russland beizuwoh­nen - er war schon längst selbst zum Teil dieser Kul­turgeschichte geworden. Die Zuhörer waren begei­stert von seinem glänzend ausgeführten Vortrag über die Geschichte der rußlanddeutschen Literatur.
Johann Warkentin - temperamentvoll und manchmal auch stur - war kein pflegeleichter Mensch. Mit seinem ganzen Leben hat er sich das Recht auf seine eigene Meinung erkämpft, sei es seine Sicht der Vergangenheit oder die kulturelle und politische oder sprachliche Situation der Aussiedler in Deutschland.
„Ich bin zu alt, um zu lügen“, wiederholte er im­mer wieder, wenn er einigen Funktionären seine unverblümte Meinung sagte. Und sein Tadel hatte ge­nau so ein großes Gewicht wie sein Lob. Johann Warkentin war eine Lichtgestalt der russlanddeutschen Literatur, er 
konnte sich messen mit den Einheimischen und scheute keine Auseinandersetzungen, wenn es um sein Heiligtum ging, die deutsche Sprache. Er kämpfte bis zuletzt gegen Ungenauigkeiten, Anglizismen für eine präzise, schönere Ausdrucksweise und war für die jüngere Autoren ein strenger, aber gerechter Lehrer.

Agnes Gossen-Giesbrecht

 

 

Agnes Gossen-Gisebrecht